
Bist du bei allem, was du tust, im Hier und Jetzt? Diese Fähigkeit haben viele von uns nicht mehr. In Kursen können wir sie uns aneignen (lassen). Doch zu welchem Preis? Dem gehe ich hier nach.
In Zeiten, in denen immer mehr Menschen einen Burnout erleiden, sich dauerhaft gestresst oder ängstlich fühlen, schießen Ausbildungskurse für Achtsamkeitstrainer, Angebote für Entspannungs-Retreats und Meditationen wie Pilze aus dem Boden. Mit solchen Events lässt sich viel Geld machen. Doch was bringen sie? Sind sie notwendig, um Menschen wieder zu sich selbst finden? Oder sind sie doch nur Mittel zur Selbstoptimierung?
Immer mehr wollen Achtsamkeit trainieren
Auf diese Fragen gibt es wohl kein eindeutiges "Ja" oder "Nein" als Antwort. Fakt ist: Immer mehr Menschen wollen Achtsamkeit trainieren. Denn das Wissen, dass Achtsamkeitsübungen stressresilienter, ausgeglichener und glücklicher machen, setzt sich durch. Der Hype um Achtsamkeit ist also eine Antwort auf die vielfältigen Herausforderungen unserer Zeit. Die Menschen spüren, dass sie ein Mittel benötigen, um gegenzusteuern.
Die Ursprünge der Lehre liegen im Buddhismus. In der westlichen Welt ist die Methode zum Trend geworden. Sie wird immer mehr kommerzialisiert. Prominente und Influencer machen es vor, Ratgeberbücher, Blogs und Podcasts werden zu Hauf veröffentlicht, ebenso Videos und kostspielige Kurse. Unternehmen, die etwas auf sich halten, bieten Achtsamkeitskurse für ihre Mitarbeitenden an.

Achtsamkeit als innere Haltung
Wie das häufig bei Trends passiert, werden verschiedene Begriffe wild miteinander gemixt, verwechselt, synonym verwendet – etwa Achtsamkeit und Meditation. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass beide Methoden grundsätzlich verschiedene Ziele haben. Achtsamkeit ist eher eine bestimmte Form der Meditation, aber vielmehr noch eine innere Haltung. Es geht, wie schon so oft beschrieben, darum, sich selbst, seine Empfindungen mit all seinen Sinnen wahrzunehmen; aufmerksam, akzeptierend, offen und wohlwollend gegenüber der Umwelt und dem eigenen Ich zu sein.
Dazu gehört, zu sehen, zu schmecken, zu riechen, zu hören und zu fühlen. Unter den letzten Aspekt fällt es auch, eigene Gedanken und Gefühle bewusst wahrzunehmen, ohne diese zu bewerten oder gar zu verurteilen. So kann es uns sogar gelingen, uns selbst besser kennenzulernen, statt unsere Gedanken in die üblichen Schubladen zu packen oder mit gewohnten Mustern zu reagieren. Je klarer wir uns über diese Muster sind, desto mehr Möglichkeiten haben wir, Entscheidungen zu treffen.
Nur wenn durch das Meditieren das gegenwärtige Erleben und Fühlen in den Fokus rückt, ist man achtsam. Wer eine meditative Traumreise macht, schweift mental in eine Fantasiewelt ab und ist in diesem Moment alles andere als achtsam. Wer meditiert, versucht, sich in seine Gedanken zu versenken. Du siehst, nicht immer kann man die Begriffe Achtsamkeit und Meditation gleichsetzen.
Achtsamkeit ist nicht bloß Wellness
Wenn du jetzt denkst, Achtsamkeit ist einfach ein bisschen Abschalten und Wellness machen in unserer reizüberfluteten Welt, liegst du falsch. Es ist nicht damit getan, dem Handy mal eine Stunde lang keine Beachtung zu schenken. Stattdessen ist es wichtig zu üben und die Achtsamkeitspraxis in den Alltag zu integrieren. Und zwar von morgens bis abends, etwa mit einer Morgenmeditation gleich nach dem Aufwachen und mit einer Übung vor dem Schlafengehen. Dazwischen kannst du den Sonnenaufgang aufmerksam betrachten, dein Essen achtsam zu dir nehmen, mit dem Rad statt dem Auto fahren.

Es ist normal, dass es uns – so ganz ohne regelmäßiges Üben – schwerfällt, mit der Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt zu bleiben. Wie beim Sport die Muskeln, müssen wir regelmäßig trainieren, um mit der Zeit immer besser zu werden. Wenn es dir aber gelingt, über einen längeren Zeitraum Achtsamkeit zu praktizieren, kannst du mit stressigen Situationen besser umgehen und deine Emotionen regulieren.
Ich halte es für wesentlich, mit welcher Absicht Achtsamkeit geübt wird. Wenn wir sie ernst nehmen und angemessen praktizieren, führt sie auch dazu, dass wir unsere Grenzen kennenlernen und wahrnehmen. Wir erkennen dann, dass es uns nichts bringt, sondern eher schadet, immer mehr leisten zu wollen. Sie kann als Ausstieg aus dem Zwang der Selbstoptimierung verstanden werden.
Achtsamkeits-Begriff wird immer öfter missbraucht
Doch Vorsicht, immer öfter wird die Achtsamkeit als schnelle, hocheffektive Maßnahme der Leistungssteigerung angesehen. Sie wird missbraucht als ein Mittel zum Erreichen eines persönlichen Ziels. Dabei geht die ursprüngliche Bedeutung verloren. Denn ganz im Gegenteil: Es geht nicht darum, mit Achtsamkeit etwas Bestimmtes zu erreichen, sondern darum, dieselben Dinge mit einer anderen, liebevollen Haltung zu tun.
Ich kann dir nur raten, dich intensiv mit dem Achtsamkeits-Begriff auseinanderzusetzen, bevor du loslegst. Und dass du einen Schritt nach dem anderen machst. Fange damit an, eine kleine Meditation oder Achtsamkeitsübung in deinen Alltag einzubauen. Nimm dir bewusst Zeit, um wahrzunehmen, was in dir und um dich herum geschieht. Dazu brauchst du übrigens keinen kostspieligen Kurs. Das kannst du ganz alleine für dich praktizieren.
Kommentar hinzufügen
Kommentare